Besuch der Inszenierung von Kafkas Prozess im Alexandrinski-Theater
Geschrieben von Emilie R. Mathyl und Ekaterina Ulashchenko
Am Sonntag, den 25. September 2022 besuchten wir, die 11. Klasse der Deutschen Schule Sankt Petersburg, gemeinsam mit unserem Klassenlehrer Herrn Dr. Juen im Rahmen des Fachs CAS (creativity, activity and service) die Theaterinszenierung von „Der Prozess“ im Alexandrinski-Theater, in dem Kafkas berühmter gleichnamiger Roman, aufgeführt wurde.
Franz Kafka gilt als ein weltbekannter und auch in Russland gern gelesener österreichischer, deutschsprachiger Schriftsteller, der die meiste Zeit seines Lebens in Prag und Wien lebte. Seine Werke — wie etwa „Die Verwandlung“ — werden zum Kanon der Weltliteratur gezählt und wurden zum Großteil von seinem engen Freund und Vertrauten, Max Brod, den Kafka als Nachlassverwalter bestimmte, nach seinem Tod, veröffentlicht. Kafkas psychologische Tiefe und sein besonderer Ausdruck haben dazu geführt, dass es heute den Begriff kafkaesk gibt. So groß ist die Bedeutung dieses Schriftstellers, der auch in Russland (genauso wie Stefan Zweig und andere) gern gelesen wird.
Nicht weniger ehrwürdig ist der Ort der Aufführung. Das Alexandrinski-Theater, in dem das Theaterstück aufgeführt wurde, wurde vom berühmten italienischen Architekten Carlo Rossi nach fünfjähriger Bauzeit im Jahre 1832 vollendet und nach der deutschen Gattin Zarengattin Alexandra Federovna benannt. Zahlreiche berühmte russische Theaterstücke wurden hier uraufgeführt. Das Theater zählt nach wie vor zu den bekanntesten in St. Petersburg.
Warum begab sich die 11. Klasse des IB-Diplomprogramms dorthin? Bildung beginnt bekanntlich nicht erst mit der Schule und hört erst recht nicht mit ihr auf. Bildung beginnt schon im Kleinkindalter (weswegen Früh- und Elementarpädagogik so wichtig sind), stellt einen lebenslangen Prozess dar und ist immer dann gegeben, wenn Menschen ihre Persönlichkeit formen, Grenzen ausloten und überschreiten, Wissen erwerben, sich kreativ ausdrücken und danach streben, sich weiterzuentwickeln. Ab und an ein Theaterbesuch, bei dem man erlebt, wie literarische Texte auf einer Bühne lebendig werden, machen Literatur mit allen Sinnen erlebbar.
Der Theaterregisseur und Intendant Attila Vidnyánszky transformierte gemeinsam mit Schauspieler:innen den Roman in eine überaus gelungene Aufführung. Kafkas Prozess ist zeitlos aktuell: Es geht um die Psychologie der Gerechtigkeit, unsere Wahrnehmungswirklichkeit und um einen Prozess gegen den Protagonisten Josef K., der so gar nicht in unsere Vorstellungswelt passen will.
Dabei eröffnen sich Denkdimensionen, die eine soziologische und politische Interpretation des Romans als Anklage gegenüber einer kalten Bürokratie (zur Zeit Kafkas) nahelegt und hervorhebt, wie viel die menschliche Freiheit wert ist.
Diese und andere Aspekte greift Attila Vidnyanszky in seiner Inszenierung des unserer Meinung nach sehr gut auf. So lauern die Vollstrecker — mit Zylinder ausgestattet wie im Roman — die gesamte Zeit hindurch versteckt und wenig greifbar auf Josef K., der versucht zu verstehen, warum er eigentlich angeklagt ist. Die Musik und das sparsam eingesetzte Licht verstärken die von K. beinahe schon als surreal empfundene Wirklichkeit. Insbesondere die dramatische Musik führt einem die zunehmende Ausweglosigkeit seiner Situation und die nicht zu fassende Anklage vor Augen. Dass dann noch deutsche Texte — wie unter anderem das Schlaflied „Schlaf, Kindlein schlaf“ oder das Lied „Zeig dich!“ in das Bühnenstück einfließen, verleiht dem Ganzen einen besonderen Schauer.
Die Ausweglosigkeit und Kälte, die durch die Theateraufführung lebendig werden, geradezu aus dem Text auf die Bühne fließen und sich dort materialisieren, stellen eine nachvollziehbare Belastung für die menschliche Psyche dar, insbesondere dann, wenn man nicht weiß, wer einen möglicherweise verraten oder auch nur denunziert hat, sodass man versteht, wie sich Menschen fühlen müssen, die in existenzielle Nöte geraten. Somit wird neben dem Intellekt auch die Empathie geschult.
Der Mensch, der zwischen Gut und Böse unterscheiden kann, wird sich, wenn er nicht völlig abgestumpft ist, in vielen Situationen immer auch die Frage nach einer möglichen Schuld und damit die Frage nach Gerechtigkeit stellen. Hiermit sei ein Schlussstrich markiert: Kafka ist immer aktuell und Bildung wird an unserer Schule als ein ganzheitliches Konzept verstanden, das alle Sinne tangiert.